„Ein Mensch ist frei geboren“

K. H., Afghanistan

Ich habe K. bei einer Hilfsorganisation in Zürich kennengelernt, die sich für Asylsuchende in der Schweiz stark einsetzt. An diesem Abend wurden mehrere Projekte vorgestellt, für die auch K. sich interessiert hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er bei einer Schreibwerkstatt mit anschliessender Theateraufführung in Zürich mitgemacht. Das Projekt hiess „Our hope, our voice“, das Menschen mit der eigenen Fluchtgeschichte ein Plattform bieten sollte, sich damit auseinanderzusetzten und diese für andere sichtbar zu machen.

 

Später hielt ich das Büchlein, das während dem Projekt entstanden ist, mit gemischten Gefühlen in der Hand. Die Geschichten darin sind nämlich von einer starken Ausdruckskraft und unglaublicher Tiefe. Die fast intimen Einblicke in die Welt der Erinnerungen, Gefühle und persönlichen Wahrnehmungen haben mich zutiefst berührt. Ganz abgesehen vom Schrecklichen und Belastenden, mit dem Leser konfrontiert werden. Auch K. hat die ergreifende Geschichte seiner Flucht zu Papier gebracht.

Nach einigen Monaten habe ich ihn wieder kontaktiert und von meinem Photoprojekt erzählt. Er sagte zu und überraschte mich gleich mit seiner positiven Lebenseinstellung. Vor dem Hintergrund der vielen ungelösten Problemen wirkte es geradezu wie ein echter Hoffnungsfunker. Als (noch)

nicht anerkannter Flüchtling hat man nämlich sehr begrenzte Möglichkeiten,

sein Leben würdig zu gestalten. Nur dank dem enormen Einsatz der NGO‘s

und Freiwilligen, kommen diese Menschen mit dem gesellschaftlichen Leben und denen Lebensaspekte in Berührung, die für die meisten von uns eine Selbstverständlichkeit ist. Dort wo der Wille und Möglichkeiten des Staates enden, reichen diese Organisationen und einzelne Personen ihre unterstützende Hand.

 

Die Vielfalt an Aktivitäten, die K. für sich entdeckt hat, war eine weitere Überraschung für mich. Inzwischen hat er Praktika in einer Arztpraxis und

einem Altersheim absolviert. Er ist nach wie vor beim Projekt „Our hope, our voice“ und ihren gemeinsamen Theateraufführungen dabei. Zum guten Letzt, lernt er Gitarre spielen und übt zusammen mit einer kleinen Band.

 

Beim Deutsch lernen hält er ein klares Ziel vor Augen: das B2 Zertifikat des Goethe Instituts (nach bestandener Prüfung in B1), damit er eines Tages an der Uni studieren dürfte. „Kennst du denn das Angebot für Asylsuchende, ein Vorbereitungsjahr bei der Uni Zürich kostenlos zu absolvieren?“ - fragte ich ihn. „Ich hab mich sogar für einen richtigen Studiengang beworben. Es wird leider noch warten müssen“…

 

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Nach seinem Matura-Abschluss musste K. arbeiten, da er schon als Teenager nur auf sich zählen konnte. So gut es ging, besuchte er an der Uni in Kabul einen Vorkurs. Das Studieren blieb für ihn jedoch bis heute ein unerfüllter Traum.

 

Vor seiner Flucht hatte er fürs US-Militär aus Dari und Pashtu übersetzt. Die verzwickten politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten im Heimatland wurden für ihn immer komplizierter und gefährlicher. „Alles grosse Politik“, sagt K. und will darauf in Details nicht eingehen. Nach einer Weile verliert seine Erzählung den roten Faden, es heisst nur noch: „dann war die Flucht“, die sieben Monate andauern sollte und sein Leben zweigeteilt hatte.

 

Mit einer Kopfbewegung zeigt er auf das Büchlein „Our voice, our hope“, das ich zu unserem Treffen mitgebracht habe: „Hier steht ja alles geschrieben“.

 

***

Jemand, der so einen Kampfgeist und den Überlebenswille hat, wie K., überlässt dem Zufall sein Schicksal nicht. „Wenn ich vor einer tiefen Grube stehe, warte ich nicht, bis jemand die Überquerung für mich sicher macht. Ich suche selbst nach einer Lösung solange, bis ich sie gefunden habe.“

 

Und doch ... „Die Unsicherheit über meine Zukunft ist schwer zu ertragen“, - sagt er schliesslich nach einer längeren Pause. „Ich hätte in den letzten Jahren viel erreichen können, studiert oder sogar eine Familie gegründet. Stattdessen kämpfe ich die ganze Zeit darum, mich als ein vollwertiger Mensch zu fühlen

und zuversichtlich in die Zukunft schauen zu dürfen.“

 

"Was würdest du morgen machen, wenn du einen positiven Entscheid von Behörden bekommen würdest?" - „Ein Mensch ist frei geboren. Ein freier Mensch zu sein und frei über mein Leben zu bestimmen, ist alles, was ich mir wünsche.“

 

Da wusste ich nichts darauf zu antworten. Ich ahnte nur, dass wir alle mal innehalten und über unsere eigene Werte nachdenken sollten.

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